Drei Bilder hat die Autorin Haideh Daragahi ausgewählt, die eindrucksvoll Ursache und Gehalt der Revolte im Iran beleuchten. Ihre These: Der neue “Bürgerjournalismus” im Iran speist sich vor allem aus der dreißigjährigen Unterdrückung.
Die Verurteilten wurden von der aufgebrachten Menge gerettet. arc
Aus der Masse der Filme, Bilder und Geschichten aus dem Iran, die mich in der letzten Zeit per E-mail in Stockholm erreichen, habe ich drei Bilder ausgewählt, die besonders eindrucksvoll Ursache und Gehalt der derzeitigen Revolte beleuchten. Alle drei sind Beispiele für ein neues Phänomen: den “Bürgerjournalismus”. Er entstand, als nach den Protesten gegen die Wahlfälschungen im Juni 2009 im Iran professioneller Journalismus unterbunden und ausländische Reporter ausgewiesen wurden.
Das erste Bild stammt von einer öffentlichen Hinrichtung im Südosten der Stadt Sirjan, wo eine aufgebrachte Menge die Sicherheitskräfte angriff und die beiden Verurteilten, die bereits bewusstlos am Strick hingen, vom Galgen abschnitten. Auf der rechten Bildseite sieht man noch den Strick, im Zentrum des Bildes erkennt man einen von einem Tuch bedeckten Körper, der von helfenden Händen aufgefangen und in Sicherheit gebracht wird.
Eine Frau zeigt ihre Unerschrockenheit und Siegeszuversicht gegen die repressive Staatsmacht.
Öffentliche Hinrichtungen durch Erhängen oder Steinigung sind Teil des Vorhabens der Islamischen Republik, Gewalt zu normalisieren und die Beziehungen der Menschen zu brutalisieren. Die Einführung der Scharia 1979 hat die (Straf-)Rechtsprechung auf die Wiedervergeltung einer Tat reduziert, also auf ein Auge um Auge. Kleinen Dieben werden die Hände abgeschnitten, und wenn jemand durch einen anderen ein Auge verloren hat, wird dem Täter das Augenlicht genommen.
Mord wird weniger als gesellschaftliches denn als familiäres Vergehen geahndet, und wenn die “Blutsgemeinschaft” d.h. die Familie des Opfers, sich weigert, die Angelegenheit mit “Blutgeld”-Zahlungen beizulegen (deren Höhe vom Staat festgelegt wird), werden sie vom Scharia-Richter aufgefordert, bei der Hinrichtung den Stuhl umzustoßen, auf dem der Verurteilte steht.
Ein Mann hält sich an einem Laternenpfahl fest, um einen Polizisten besser treten zu können.
Das Amateurvideo von den Ereignissen in Sirjan:
Das Bild von der tätigen Rettung zweier zum Tode Verurteilter ist das sichtbare Statement einer Selbstermächtigung, Die Menschen wollen sich nicht länger an die Grausamkeiten des Vergeltungsrechtes anpassen, sie fordern ihre Würde zurück und liefern somit ein stolzes Beispiel für die zivilisierte Menschheit in den USA, in China und in allen Ländern der Welt, in denen die Todesstrafe noch immer legal praktiziert wird.
Das zweite Bild stammt vom 27. Dezember aus Teheran. Es zeigt eine Frau, die zum Schutz gegen Tränengas eine weiße Atemmaske trägt und mit den Fingern trotzig das Victory-Zeichen in die Kamera hält. Im Gesicht und auf dem Tuch Blutspuren. Ihre Haltung ist typisch für Millionen von iranischen Frauen, die in den letzten sechs Monaten auf den Straßen der Großstädte waren. Bei den Demonstrationen sah man sie in den vordersten Reihen, bei Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften gelang es ihnen oft durch ihre Aktionen, die Verhaftungen der Männer zu vereiteln.
Ihre jetzigen Aktivitäten kann man nur vor dem Hintergrund von dreißig Jahren Erniedrigung und Entrechtung verstehen. Tag für Tag beherrschte sie der erniedrigende Schleierzwang. Diese Frauen hatten zu akzeptieren mit drei weiteren Frauen zusammenzuleben, die es einem Mann gestattet ist zu heiraten. Hinzukommt, dass nach schiitischem Recht jeder Mann eine “Ehe auf Zeit” abschließen kann.
Vorausgesetzt er hat das Geld, einen Imam zu bezahlen, der die Ehe auf Zeit legitimiert. Wenn sich dagegen eine Frau für eine außereheliche Liebe entscheidet, wird sie zu Tode gesteinigt. Frauen gelten ab dem Alter von neun Jahren als heiratsfähig. Wenn sie ihren Ehemann verlässt, hat sie weder Anspruch auf Unterhalt noch erhält sie das Sorgerecht für ihre Kinder.
Für jede Reise und für jede Arbeitsaufnahme benötigt die Frau eine schriftliche Einverständniserklärung ihres männlichen Vormunds oder ihres Ehemannes. Das Blutgeld, das zu entrichten ist, wenn eine Frau umgebracht wird, ist halb so hoch wie in dem Fall, dass ein Mann umgebracht wird; ihr Erbanteil beträgt die Hälfte dessen der männlichen Erbberechtigten; ihre Zeugenaussage zählt nur halb so viel wie die eines männlichen Zeugen. In einem säkularen Staat haben iranische Frauen also alles zu gewinnen vom Leben – und nichts zu verlieren.
Das dritte Bild, gleichfalls vom 27. Dezember, zeigt einen jungen Mann, der sich an einem Laternenpfahl festhält, um einem vor der aufrührerischen Menge flüchtenden Polizisten einen härteren Fußtritt verpassen zu können. In seiner Wut erkennt man 30 Jahre politische Unterdrückung, wirtschaftliche Entbehrung und gesellschaftliche wie persönliche Erniedrigung. Allzu lange bereits werden die Bürger Irans behandelt, als lebten sie in einem besetzten Land.
Eine kleine klerikale Elite hält Macht, Reichtum sowie die Massenmedien in ihren Händen und versagt dem Rest der Bevölkerung nicht nur das Recht auf freie politische und künstlerische Meinungsäußerung, sondern beherrscht auch die ganz alltäglichen Angelegenheiten, darunter die Wahl der Musikrichtung, der Getränke oder des T-Shirt-Designs; sie verbieten den Jungverliebten, händehaltend durch die Straßen zu gehen. Auf Homosexualität steht die Todesstrafe, auch für Minderjährige.
Alle Bürger haben den Einkommensschwund miterlebt, der dazu führte, dass es heutzutage zehntausende Straßenkinder, hunderttausende Prostituierte und Millionen von Heroin- oder Opiumabhängigen im Lande gibt. Niemanden also sollte verwundern, mit welchem Todesmut der Bürgerjournalismus heute betrieben wird.
Dreißig Jahre lang haben die westlichen Medien oberflächlich aus dem Iran berichtet und die Entwicklungen übergangen, die zur jetzigen Situation geführt haben. Wer die heutige Lage auf die Wahlfälschungen zurückführt, statt zu erkennen, dass hier die in den letzten dreißig Jahren aufgestauten Frustrationen nach außen gelangen, verstärkt nur die öffentliche Ratlosigkeit. Mit den Wahlfälschungen, die es schließlich auch in westlichen Demokratien gibt, kann man die derzeitige Kraft des Aufruhrs nicht erklären.
Westliche Politiker, die nur zu genau wissen, dass eine radikale politische Veränderung im Iran das politische Gefüge im Nahen Osten und die eingefahrenen Verbindungen zu den vorhandenen Regierungen verändern wird, dulden die oberflächlichen Berichte und weigern sich, mehr zu tun, als die Menschenrechtsverletzungen der vergangenen sechs Monate zu thematisieren. Diese Haltung teilen sie mit der so genannten Reformfraktion, die ihrerseits Teil der Elite ist und bekanntlich die Wahlen im Juni verloren hat.
Tatsächlich stellt die neuartige und überraschende Lage im Iran die westlichen Medien in Frage und zeigt deren ganze Schwäche, die in der Fixierung auf die Macht angelegt ist. Auf welche Weise die derzeitigen Vorkommnisse eine Antwort sind auf die extreme Kontrolle, die das Regime in der Vergangenheit ausgeübt hat, kann dieser Bericht nur schwer in Worte fassen. In der spezifischen dezentralen Form des derzeitigen Widerstandes kommen die jüngeren Erfahrungen der Frauenbewegung zur Geltung: Ihr Aufbau einer netzwerkartigen Organisation sowie ihre Kommunikation via Internet hat Schule gemacht und die verstreuten Aktivitätsformen heute vorbereitet.
Niemand kann den Ausgang der Volksbewegung vorhersagen. Wie dem auch sei, jeder Kompromiss, bei dem am Ende mit westlichem Segen die eine oder andere Fraktion an die Macht gelangt, wird sich auseinandersetzen müssen mit der Minimalforderung einer Trennung von Religion und Staat, der Forderung nach bedingungsloser freier Meinungs- und Kunstausübung, der Gleichberechtigung der Frau und der vollen Staatsbürgerrechte für homosexuelle und ethnische, bzw. religiöse Minderheiten. Eine Regierung, die auf Scharia-Recht gründet, wird diese Forderungen nicht erfüllen können.
Frankfurter Rundschau