Beim Istanbuler Filmfestival wurden schwierige Fragen gestellt.
Auch in Deutschland ist der türkische Autorenfilm seit ein paar Jahren präsent, in den Kinos oder innerhalb von Filmreihen und anderen Kulturveranstaltungen. Und im Jahr der europäischen Kulturhauptstadt Istanbul ist das Interesse hierzulande noch einmal gestiegen. Deshalb lohnte ein Blick auf neue türkische Kinoproduktionen in diesem Jahr besonders. Die 29. Ausgabe des Internationalen Istanbuler Filmfestival vor der traumhaften Kulisse des Bosporus fand ohne Roten Teppich und kreischende Fans statt. An zahlreichen sozialkritischen und symbolbeladenen Fantasiebildern fehlte es aber während der knapp zweiwöchigen Veranstaltung nicht: Mehr als 200 Filme wurden gezeigt, unter anderem 50 türkische Beiträge.
Im Nationalen Wettbewerb setzte sich die Komödie “Vavien” der Brüder Durul und Yagmur Taylan gegen die Konkurrenz durch. Es geht um eine dreiköpfige Durchschnittsfamilie, deren Zusammenleben allein auf Lüge, Misstrauen und Betrug beruht. Der konventionell und schlicht erzählte Film wird bald auch im Rahmen des Förderprogramms der Europäischen Union in Deutschland zu sehen sein. Er wird dann sicherlich breiten Diskussionsstoff über familiäre Werte und Verhältnisse in der heutigen Türkei liefern.
Zeit der Melancholie vorbei
Die Jahre, in denen sich das türkische Kino in Schmachtfetzen mit viel Gefühl und Tränen ausdrückte, ist passé. Die Filmproduktion in der Türkei entwickelt sich seit Mitte der Neunziger Jahre kontinuierlich und erfolgreich. Anfangs bestimmten noch die Filme, die von einer Art türkischer Melancholie (“Hüzün”) geprägt waren, diese Entwicklung: Weite Landschaften, konventionelle Kadrierungen, viel Ruhe in den Einstellungen, Nahaufnahmen von unzufriedenen und nachdenklichen Gesichtern. Eine Art “Cinéma d’auteur”, das besonders Kritiker, Festivaljurys und Filmförderer immer wieder überzeugt hat.
In diesem Jahr zeigte sich der türkische Film im nationalen Wettbewerb von seiner “Männer-Seite”. Alle 11 Beiträge, die über die Leinwände in Istanbul flimmerten, stammten von Regisseuren. Dennoch waren Frauenschicksale nicht selten zu sehen. Das dominante Frauenbild im türkischen Kino pendelt oft zwischen Hure und braven und stummen Ehefrauen/Müttern – so wie es etwa Regisseur Onur Ünlü in seinem dritten Episodenfilm “Five Cities” darstellt. Neu hingegen war die Interpretation des Filmemachers Atil Inac in seinem Film “A Step into the Darkness”. Inac versucht den Weg zweier Frauen zum Terrorismus zu zeigen. Ihre Motive: Verzweiflung und Rache. Die beiden irakischen Frauen haben durch amerikanische Angriffe alles verloren und setzen deshalb ihre Körper “als Waffe gegen den Feind” ein.
Mutige Fragen im Kino: Die Kurdenproblematik
Auch Kinder sind beliebte Protagonisten im türkischen Kino, besonders in diesem Jahr. In der deutschen Produktion “Min Dit – Die Kinder von Diyarbakir” (derzeit auch in den hiesigen Kinos zu sehen) erzählt Regisseur Miraz Bezar nüchtern und realistisch die Geschichte einer kurdischen Familie, die durch staatliche Gewalt zerrissen wird: Gülistan ist erst 10 Jahre alt, als ihre Eltern vor ihren Augen erschossen werden. Tante Yekbun ist die einzige Verwandte, die sich nun um sie und die Geschwister kümmern kann. Als auch Yekbun eines Tages verschwindet, muss Gülistan allein die Verantwortung übernehmen. “Min Dit – Die Kinder von Diyarbakir”, der beim Festival die “Goldene Tulpe für die beste Regie” gewann, ist ein Novum innerhalb des neuen türkischen Kinos: Zum ersten Mal wird die Kurdenfrage in kurdischer Sprache behandelt. Auch das hochaktuelle politische Thema um die brutalen Angriffe der türkischen Geheimpolizei gegen die kurdische Bevölkerung war zuvor im Kino nicht so behandelt worden.
Im Film “Brought by the Sea” des renommierten Regisseurs Nesli Cölgecen ist ein sechsjähriger farbiger Junge Held der Handlung. Der Film ist sowohl Natur- als auch Charakterstudie. Die Geschichte kann man kurz zusammenfassen: Jordan, ein afrikanischer Junge, verliert seine Mutter bei der Flucht mit einem Schlauchboot über das Meer. “Brought by the Sea” erzählt jedoch mehr als nur diese tragische Geschichte. Er handelt von den Träumen, Hoffnungen und Ängsten eines kleinen Jungen, der sich einfach ein normales und sicheres Leben wünscht.
Die Welt aus den Augen der Kinder
Kinder waren auch in den Filmen der Reihe “New turkish Cinema” vielfach präsent. In “Me and Roz”, dem Debütfilm der Regisseurin Handan Öztürk, übernehmen gleich mehrere Kinder die Hauptrolle. Als Erzähler fungiert der freche, aber kluge zehnjährige Kurde Shoresh, der mit seinen ironischen Bemerkungen aus dem Off die Fäden der Lebensschicksale der zahlreichen Figuren in den Händen hält. “Me and Roz” hätte leicht süßlich und kitschig ausfallen können, Handan Öztürk verleiht seinem Film aber eine soghafte Intensität und vermeidet Klischees.
Dass den Festivalmachern die politische Brisanz der in den Filmen angesprochenen Themen bewusst war, zeigte der Auftritt einer kurdisch-armenisch-türkischen Musikgruppe während der Abschlussgala im Istanbuler Kulturviertel Beyoglu. In diesem Viertel liegt auch die “Jashilcham-Straße”. Dort wurde Anfang des 20. Jahrhunderts das türkische Kino gegründet. “Jashilcham” ist so heute ein Synonym für das Kino des Landes – wie Hollywood oder Bollywood für das amerikanische und das indische Kino. Vielleicht wird “Jashilcham” auf dem nächsten Festival auch das nächste heiße Eisen angepackt haben – die Armenienfrage.
Redaktion: Jochen Kürten